DA WAR DOCH NOCH
Prosa trifft Lyrik
Ein Verweilen. Ein Hinsehen. Ein Hindenken. Ein Aufnehmen und Weitergehen, vielleicht eine kurze Abzweigung zum Ausprobieren, weil ein neuer Gedanke das fordert. Ein Nachsehen und Nachgeben, Nachspüren, weil das Gesehene, Gedachte berührt und bewegt. Sich bewegen, weil Stillstand keine Auswege bietet. Ein Öffnen von Türen und Fenstern, sich wehren gegen das Verschließen. Eine Weitsicht, ohne die Nähe aus den Augen zu verlieren. Ein Fingerzeig, kein Finger-Zeigen. Ein Schauen, Spüren und Schreiben, weil da war doch noch…
Prosa und Lyrik treffen aufeinander. Sie begegnen sich in der Poesie, der in zweierlei Hinsicht Ausdruck verliehen wird. Aus der Sicht des Erzählers, der ganz persönliche Erfahrungen verwortet und aus der Absicht, diese Erfahrungen zu vertiefen, sodass sie sich in Metaphern, in Verszeilen wiederfinden.
Die Texte erzählen von Menschen, die in einer außergewöhnlichen Lebenssituation stecken, in denen es schwer ist, sich selbst eine Stimme zu geben, von Menschen, die Sehnsucht nach Nähe haben, von Irrwegen und Auswegen, von Optimismus und Hoffnung. So berichten die Geschichten und Gedichte über das Vergehen der Zeit, das Miteinander-Reden, die Suche nach Austausch und Begegnungen, das Abseitsstehen, über erlittene Verluste und über das, was Rück- und Zusammenhalt gibt.
Und da war doch noch die Utopie und der Glaube, dass das Denken immer frei sein wird:
Ich werde mir den Wind auf den Rücken binden und mich von ihm an Ufer treiben lassen, an denen noch keines eurer Worte je gestrandet ist. Ich werde mit nichts ankommen, werde von den Früchten der wilden Wälder leben und mich von den Tieren jagen lassen, die mich nicht kennen, werde mich mit ihnen anfreunden, werde Ideen in die harten Böden pflanzen und sobald diese gewachsen und gereift sind, werde ich den Wind von meinem Rücken nehmen und mit ihm die Samen meiner Setzlinge übers Meer an neue Strände wehen lassen.
Von Anfang an hat mich besondere die Einteilung von Prosa und Lyrik
fasziniert. Jedes Kapitel beginnt mit einem erzählenden Text. Die Lyrik erweitert oder vertieft die Themen und Motive der Prosatexte, dabei entsteht ein gekonntes Zusammenspiel.
Der erste Prosatext "Stimmverloren" über den vom Krieg
heimkehrenden Großvater hat mich besonders ergriffen, so fein, sensibel und klar wird hier ein tragisches Schicksal beschrieben: "nach langem warten, als kein erwarten mehr übrig, in einer zeit,
in der schweigen geboten, weil das erinnern nicht mehr zu tragen war". In einem nachfolgenden Gedicht stehen dann diese Zeilen: "mein Vater war im Krieg / ich weiß nicht, wie er überlebte / ich
hab ihn nie gefragt (...) irgendwann hörten die Toten / lautlos auf zu fehlen".
Der Tod naher Menschen spielt im
ganzen Buch eine zentrale Rolle. Immer sind das innere Erleben und auch das Ringen um Worte Thema: "Wir brauchen Zeit, dachte sie, das Reden kommt später." (S. 26) Dem folgen Gedichte mit Titeln wie "Bis die Sätze reifen",
"Zungenschlagsahne", "Wäre ich Lyrik" oder "Buchstabenstellung" und lyrische Bilder wie z.B.: "aus meinem Leintuch / flattern deine Wörter / wie Schmetterlinge / übers Meer" (S.
34).
Das 4. Kapitel "abgelaufene Tage" tastet sich an
Vergänglichkeit heran. Hier finde ich sehr schöne Lyrik wie "Weiches Holz" (S.72), "Duft" (S.76), "Kleinigkeiten" (S.80). Auch Schuldfragen werden thematisiert, wie in "Mondgänger" (S. 87, 5.
Kapitel).
Das 6. Kapitel beschreibt eine von anderen für
verrückt gehaltene Person, die etwas von einem Künstler hat: "Windverrückt. Ich werde mir den Wind auf den Rücken binden und mich von ihm an Ufer treiben lassen, an denen noch keines eurer Worte
je gestrandet ist" (S. 107). Auch hier umspielen die Gedichte das Thema der Prosa: ""jetzt trinke ich nachts / den Nebel von den Flüssen" (S. 111).
Um Kälte in verschiedenen Dimensionen geht es im 8.
Kapitel "bis die Kälte Sterne streut" (S.129), auch um Prostitution. Hier nimmt die Lyrik gekonnt Stimmungen auf und verdichtet sie: "Schlag ein / meine Fensterscheiben / schlag ein / lass mir
die Scherben / liegen / auf fließenden Stufen / ich sinne über zersplittertes Glas" (S. 139) oder "am Ende war mir / als wäre ich nicht / als lief ich schattengleich / in einen kalten
Fluss / der mich empfing / als wär ich schon immer sein" (S. 144).
Das abschließende Kapitel besteht
aus zwei Prosatexten, die Vergangenes beleuchten und aufklären und Abschied nehmen. Es rundet das Buch ab, erhellt auch noch manche Textstellen im Vorhergehenden.
Ich mag die einfühlende Weise des
Schreibens sehr. Die Sprache wird den schweren Themen gerecht und lässt für die Lesenden Raum zum Weiterdenken.
Ein Unbehagen betrifft die
Wiederholung von Motiven, z.B. des Sprechens und Schreibens, die nach meinem Empfinden an manchen Stellen zu häufig hintereinander aufgegriffen werden. Doch das schmälert die literarische
Qualität des Buches nicht wirklich.
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